Ironman Hamburg: Ein Tag im Juni

Ein  mega Profifeld, bestes Wetter, 3.000 Altersklassen-Athletinnen und -Athleten: Der Race-Day beim Ironman Hamburg versprach, ein guter zu werden – und endete mit Sprachlosigkeit. Unser Beileid gilt den Angehörigen des verstorbenen Motorradfahrers, unsere Gedanken und Genesungswünsche den Verletzten. Ein Sortierversuch.

Mit einem Rumms lasse ich nicht nur meinen Rucksack, sondern auch mich auf das Hotelbett im Zentrum Hamburgs fallen. Fassungs- und sprachlos. Fakt ist: Ich kann nicht glauben, was da eben passiert ist. Und ich weiß zugleich, dass es überhaupt nicht darauf ankommt, was ausgerechnet ich glaube. Alles viel zu nichtig – das heute, das war größer. Und der Gedanke, dass der heutige Tag der erste ist, der für eine Familie, einen Freundes-, Kollegen- oder Sonstwas-Kreis ohne einen geliebten Menschen zu Ende geht, lässt mich einfach nicht los. Denn so langsam realisiere ich: Verdammt, das hätte jeder von uns sein können!

 Jeder Teilnehmer, jeder freiwillige Helfer, jeder Journalist, jeder Medienschaffende. Und das alles nur wegen Triathlon. Bloß wegen der Jagd nach dem perfekten Bild, dem Bruchteil einer Sekunde. Ich muss aufschreiben, was da heute passiert ist. Für Klarheit. Für die Zukunft. Für den Job. Für die Seele. Aber, ja, auch für den Sport, in dem es – so viel steht nach den letzten Stunden im Renngeschehen fest – diesmal nicht einfach so weitergehen kann und darf. Denn wenn wir das alles nicht aussprechen, aufschreiben, whatever, dann bleibt letztlich doch alles beim Alten. So wie viel zu oft schon.

Chronologie des Renntags

4:30 Uhr. Mit einem unsanften Gebimmel weckt mich mein Smartphone. Zu kurz war die Nacht – und zu groß ist zu dieser unmenschlichen Zeit die Vorfreude auf den bevorstehenden Tag. ‚Puh, gut, dass ich heute keine Langdistanz machen muss‘, denke ich und muss schmunzeln. Wer heute startet, ist schließlich schon seit ein, zwei Stunden wach, verdammt aufgeregt und unendlich nervös. Der Tag der Tage, er hat begonnen – und ich mag den Gedanken daran, dass damit für tausende Menschen heute ein langgehegter Traum in Erfüllung gehen wird. Triathlon-Race-Days, ich lieb‘ sie einfach! Duschen, Zeug packen, los. Rein in diese besondere Atmosphäre eines Rennmorgens …

5:30 Uhr. Angekommen am Jungfernstieg vor herrlicher Metropolenkulisse, ist es genau diese Mixtur aus Anspannung, Vorfreude, Heldenhaftigkeit, die mich empfängt. Like! Ich bin überzeugt: Der Tag wird gut, ich hab‘ Bock. Während einige Agegrouper die Gelegenheit nutzen und sich im plörrigen Alsterwasser einschwimmen, lugt die Morgensonne langsam über die Häuser und spiegelt sich in der Wasseroberfläche. Glitzer überall – und namhafte Profis beim Schwimmeinstieg: Jan Frodeno, Florian Angert, Franz Löschke … einer nach dem anderen formiert sich zum Wasserstart. Ein (zugegebenermaßen leiser) Startschuss und schon sind wir mittendrin in diesem Race-Day. Das Rennen läuft, die Content-Maschine auch. Alles nach Plan.

7:45 Uhr. Geiler Spot! Nach den ersten Race-Momenten am Wasser und an der Wechselzone zieht es mich vor das Kunsthaus am Klosterwall. Hier herrscht reger Betrieb – wie im Bienenstock. Die Athleten fahren aus der Stadt heraus und hier später auch wieder in die Stadt rein. Dazu warmes Morgenlicht, Sonne, Schatten, Perspektiven. Hier kann man auf jeden Fall bleiben, warten, Impressionen sammeln, Race-Vibes aufsaugen. Immer mehr Supporter finden den Weg an die Strecke und ich beobachte die Szenerie, bevor ich mir (endlich!) den ersten Kaffee des Tages im Hotel um die Ecke hole. Ein erster Blick auf den Ironman-Livestream ist da auch noch drin. Aber der Plan war, mich vom Rennen und maximal vom Ticker leiten und durch die Stadt flowen zu lassen. Also, statt am Bildschirm das Ganze lieber live und in Farbe zu verfolgen. Keinen Bock auf Smartphone-Buckel, ich will in die Gesichter der Athleten sehen. Realität statt Virtualität.

8:40 Uhr. Das Rennen läuft in diesem Moment seit 2 Stunden, 25 Minuten und 18 Sekunden. Er ändert alles.

9:20 Uhr. Krass, wie auseinandergezogen das Feld ist. Die erste Profigruppe um Frodo, Hogenhaug und Angert kam eben schon zurück, bog scharf links ab, fuhr in den Wallfahrtstunnel ein – und war wenige Minuten nach der Wende an der Wechselzone wieder da. Aber wo ist der Rest? 15 Minuten dahinter? Seltsam – das zieht sich doch normalerweise nicht so. Verrücktes Rennen!

9:30 Uhr. „Eigentlich müsste man abbrechen!“, „Wenn die jetzt die Strecke ändern …“, „Das ist doch viel zu unfair, wenn die Profis jetzt absteigen und um den Unfall herumschieben müssen!“ – wie jetzt: Unfall? Aufgeregt schauen immer mehr Menschen auf ihr Smartphone; ich schnappe zusammenhangslose Wortfetzen auf. Bocki, der sich ebenfalls am Klosterwall platziert hat, klärt mich auf. Okay, okay, ein Unfall also. Ja, das dauert halt. Bis zum offiziellen Statement von Ironman sowieso – und vorher brauchen wir da auch nichts zu schreiben oder zu machen. Ist vermutlich dann ein relevantes Side-Happening, für den Race-Bericht sowieso.

10:15 Uhr. Kurze Absprache mit Nick, beide blicken wir immer wieder aufs Handy, scrollen durch die News. „Leute, der Motorradfahrer ist tot.“

10:17 Uhr. Sprachlosigkeit. Tunnel-Blick. Alle wie gelähmt.

Ab diesem Moment verliert sich die Spur eines ganz normalen Race-Days. Wie automatisiert streune ich durch die Stadt, fahre die typischen Punkte wie die Wechselzone und die Cheering-Zones auf der Laufstrecke an. Aber die Luft ist raus. Rien ne va plus – und alles in mir sträubt sich gegen das „Weitermachen wie sonst auch“.

Egal, wen ich treffe: Alle wirken wie angeschossen, angeknockt. Und so langsam wird mir bewusst: Scheiße, das hätte jeder von uns sein können. Nick, Niclas, Simon, Tom … ich selbst saß vor zwei Wochen hinten auf einem Motorrad und bin auf der Jagd nach den perfekten Race-Storys durchs Allgäu gedüst. Und verdammt, es hätte auch jeder Agegrouper sein können.

After-Race-Gedanken: Kein Tag wie jeder andere

Rennabbruch oder nicht? Profi-Ausstieg oder nicht? Hinsetzen und sofort die ganze Wut/Hilflosigkeit in Blogform bringen oder nicht? Weiter Athletinnen und Athleten, die hier gerade echt was leisten, ihre Träume leben, alles geben, anfeuern oder nicht? Laut jubeln, Kuhschellen-Schwingen oder nicht? Ich weiß es nicht, der Tag verläuft sich in einer Mischung aus Automatismen, Routinen und Niedergeschlagenheit. Über dem ganzen Rennen hängt ein seltsamer Schleier – und ein schwarzer Nebel der Schwerfälligkeit legt sich über die Hamburger City.

Good vibes? Kann hier in der Community irgendwie niemand mehr in der Intensität leben, wie wir es eigentlich tun. Uns allen ist klar: Das ist irgendwie größer, grundsätzlicher. Eine Frage der Haltung und der Entwicklung des Sports, die mittlerweile so facettenreich ist, dass es für jedes „Das wäre richtig!“-Argument mindestens ein „Das wäre falsch!“-Argument gibt.

Nach den ersten Profis im Ziel schlage ich den Weg in Richtung Hotel ein – siehe Einstieg. Ich schreibe ein paar Worte, lösche sie wieder, telefoniere mit meiner Mutter, kann sie beruhigen: „Nein, keine Sorge, ich saß da nicht drauf. Alles gut.“ Die Zeit vergeht und mich zieht es am frühen Abend noch einmal raus. An die Finishline.

Hin zu glücklichen Agegroupern, die nicht nur die Ziellinie, sondern ihr persönliches Ziel erreichen. Sie wissen gerade vermutlich weder, dass ihr Rennen auf der Kippe stand, noch dass der Jubel an der Strecke ohne den Unfall vielleicht anders gewesen wäre. Sie sind voller Stolz und sichtlich beseelt, sich das obligatorische „You are an Ironman!“ abholen zu können – weil sie heute eine Wahnsinns-Leistung abgeliefert haben. Jeder einzelne von ihnen.

Aber all das kann über eines nicht hinwegtäuschen: Was an diesem Tag im Juni beim Ironman Hamburg passiert ist, ist größer als der Sport. Und diesmal darf es eines eben nicht heißen „Weiter, immer weiter“. Diesmal ist es anders.

  • „Ein Sortierversuch“: So hatte ich den Blog hier angekündigt – und so sehe ich ihn auch. Nicht mehr, nicht weniger. Schuldige auszumachen, Forderungen auszusprechen, Konzepte vorzulegen, wie es künftig laufen sollte … für all das ist es gerade noch zu früh. Dafür sind noch zu viele Fragen ungeklärt. Das ist jedenfalls mein Gefühl.
  • Aber wie habt ihr die Situation erlebt – an der Race-Strecke stehend oder vor dem Livestream sitzend? Was sind eure Gedanken dazu? Was wünscht ihr euch für die Zukunft des Sports? Und wie machen wir weiter, ohne einfach so weitermachen zu können?
  • Lasst gerne einen Kommentar da, wenn euch danach ist …
  • Von Herzen,
    Lena

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