Der Triathlon hat einen aktuellen Doping-Fall – und die Szene tobt. Zurecht. Aber lassen wir die Empörung mal aus dem Spiel: Was bedeutet die ganze Nummer eigentlich für die Basis, also Agegrouper:innen? Alles viel zu weit weg oder betrifft die Sache den Breitensport mehr als gedacht? (Bild: PTO)
Naivität. Ebendieses Schlagwort beschreibt wohl am besten, was die Triathlonwelt seit zwei Tagen ins Wanken bringt. Wie naiv konnte man, pardon, konnte ich sein, zu glauben, dass in einem derart performance-getriebenen Sport, wie es Triathlon nun einmal ist, Doping kein Thema sei? Und wie naiv konnte Collin Chartier sein, dass sein EPO-Missbrauch nicht auffliegen würde? Ich spare mir, die Antwort darauf in die Tasten zu tippen. Alles rein rhetorisch.
Aber Fakt ist: Triathlon hat ab sofort ein Thema. Und das geht weit über das Dopen hinaus. Spätestens an der Basis. Die Folgen betreffen nämlich nicht nur in puncto Vertrauen in die sportlichen Wahnsinnsleistungen im Triathlon die Elite, sondern auch den Breitensport. Vielmehr noch jede:n Sportler:in. Anders gesagt: Es kommt auf uns alle an, was der Triathlon aus der Nummer macht. Verbirgt sich hier vielleicht sogar eine Chance für eine echte Zeitenwende?
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Hintergrund: Der Doping-Fall Collin Chartier
- Am 24. April 2023 wurde bekannt, dass eine Doping-Probe von US-Triathlet und PTO US Open-Sieger (2022) Collin Chartier aus dem Februar 2023 positiv war. In Chartiers Probe wurde der Wachstumsfaktor Erythropoetin (EPO) gefunden.
- Zahlreiche Stars der Szene äußerten sich binnen kürzester Zeit zu den Vorfällen. Chartier selbst bezog auf seinem Instagram-Channel ebenfalls Stellung: Er entschuldigte sich für sein Vergehen und begründete den Einsatz des Doping-Mittels unter anderem mit mentaler Belastung sowie fehlender Freude am Sport. Zudem gab er an, die Konsequenzen seines Handelns sowie seiner Entscheidung zu tragen. Bereits am Tag darauf erschien eine Sonderfolge des „How they train“-Podcasts mit ihm, in dem er zu der Situation Auskunft gibt. Er erklärt, im Alleingang gehandelt zu haben.
- Chartier wurde für drei Jahre gesperrt; laut eigener Aussage beabsichtigt er nicht, nach Ablauf der Sperre in den Sport zurückzukehren.
Doping ist das Allerletzte und was Collin Chartier mit seinem Griff zur Nadel gemacht ist, ist und bleibt sch… naja, ihr wisst schon. Punkt. Aber bloße Empörung bringt den Sport aktuell nicht weiter. Viel wichtiger ist jetzt die Frage nach den Learnings aus der ganzen Geschichte. Denn ein Sport, der die Chance verpasst, sich genau diese Frage zu stellen, muss unter Umständen jahrelang die Folgen in Kauf nehmen. Und er muss am Ende nicht selten über Generationen die Scherben des eigenen Images aufkehren, ausgerechnet an der Basis.
Klar, dass da sofort der Radsport in den Sinn kommt. Wie oft müssen sich noch heute die inzwischen erwachsenen Kinder von Radsport-Stars der 90er-Jahre fragen lassen, ob sie der Doping-Versuchung Stand halten? Wie viele Eltern plagt wohl die Gewissensfrage, ob sie den talentierten Nachwuchs wirklich in den Profisport entlassen sollen – weil hier eben nicht nur Sieg und Freude, sondern nach wie vor enormer Leistungsdruck und Grenzen des menschlich Machbaren lauern? Und wie viele Vereine kommen auch deswegen in der Nachwuchsarbeit keinen Schritt weiter?
Königsfrage: Wie können wir das im Triathlon verhindern?
Es geht um mehr als Doping!
So simpel die Frage klingt, so schwierig ist ihre Beantwortung. Ein möglicher Ansatz: mehr Kommunikation über das Unbequeme. Denn auch das ist ein Kapitel der Geschichte im Fall Chartier: dass sich der 29-Jährige auf seine schlechte mentale Verfassung beruft. Genau hier steckt – bei aller Skepsis, die dieser Erklärung gegenüber auch berechtigt sein mag – ein Moment der Chance, mit diesem Fall für einen Neustart zu sorgen. Und zwar in Bezug auf die Enttabuisierung des Themas mentale Gesundheit.
Ob es nun der Wahrheit entspricht oder nicht, dass Chartier ausgerechnet auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit, nämlich wenige Wochen nach dem Sieg bei den PTO US-Open im September, wie er sinngemäß selbst sagt, so sehr an dem eigenen Potential zweifelte, dass er zu EPO griff: Möglich wäre es. Täglich zerbrechen Menschen an enormem Erwartungsdruck, Stress, Versagensangst, Ausweglosigkeit – im Job, im Privatleben oder eben im Sport. Und genau darüber müssen wir reden, damit die folgenden Generationen andere Strategien kennenlernen als die vermeintliche Chartier-Exit-Methode.
Ob wahr oder nicht: Mentale Gesundheit gehört auf die Agenda – gerade im Sport!
Dass es besagte andere Strategien gibt, beweisen Fälle von Top-Athlet:innen, die offen über Themen wie Depression, mentale Gesundheit, Burn-Out und Leistungsdruck im Spitzensport in den vergangenen Monaten gesprochen haben. Von Chelsea Sodaro bis Jan Stratmann, ist die Message klar: Wir müssen mehr darüber reden und Beispiele dafür sein, dass man zurück zur eigenen Stärke finden kann!
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Doku zu Jan Stratmann: Der Weg zurück
Chartier wäre in dem Fall kein gutes Beispiel – oder gerade ein gutes dafür, was eben keine gute Strategie ist. Wenn er seine Entschuldigung gegenüber dem Sport ernst meint, gilt es nun, genau mit dieser Einsicht der Basis, dem Nachwuchs, der nächsten Generation etwas zurückzugeben. Sperre hin, Karriereende her.
Mentale Gesundheit ist ein Thema, das nicht nur im Sport auf die Agenda gehört, sondern letztendlich auch in der Gesellschaft. Ob der Fall Chartier als brisanter Aufhänger genutzt wird, um das Thema in all seiner Relevanz zugunsten der Zukunft eines sauberen Sports zu nutzen, liegt letztendlich in der Hand der Szene selbst.
Denn wenn der Rauch der Empörung erst einmal verflogen ist, wird eines in der Regel ersichtlich: dass es letztendlich darauf ankommt, aus vermeintlichen Fehlern und Fehlentscheidungen zu lernen und sie künftig nicht noch einmal zu machen – im Sport wie auch im Leben.
- Frage in die Runde: Was sind eure Gedanken dazu? Ab in die Kommentare damit!
Der Beitrag EPO-Doping bei Collin Chartier: Wir müssen reden! erschien zuerst auf Pushing Limits.